Ich hasse diesen Tag
(Ein offener Brief an meine Kinder)

Liebe Kinder,

eure Mutter ist eine Meisterin der Dialektik. Eine Eigenschaft, mit der sie sich vor allem bei Ehestreitigkeiten Vorteile verschafft, ist ihre Fähigkeit, drei Worte in die Debatte zu werfen, auf die ich dann mindestens drei Sätze brauche, um den Sachverhalt richtig zu stellen.

Heute hat sie mir mit einer weiteren Fähigkeit einen Schlag versetzt, von dem ich mich nur erholen kann, indem ich diese E-Mail an euch schreibe.

Eure Mutter kann bei der Wahrheit bleiben und dennoch einen total anderen Sachverhalt rüberbringen. Sie erreicht das schlicht und einfach durch Weglassen. Was für mich eine Verstümmelung des Geschehens ist, bedeutet für sie „Akzente auf das Wesentliche setzen“. Es wäre nun falsch, „meiner Kanadierin“ mangelnde Kenntnisse in der Fremdsprache Deutsch zu unterstellen. Sie hat schlicht Freude an der Sprache, gepaart mit einer überbordenden Lust, ihren Ehemann zu ärgern.

Um alles zu erzählen, brauche ich diesmal sogar deutlich mehr als drei Sätze. Die wahre Geschichte geht so:

Es ist der 14. Februar um 6:00 Uhr morgens. In aller Ruhe lese ich meine Tageszeitung. Neben mir dampft eine Tasse frisch gemahlener Kaffee. Im Haus ist alles ruhig. Draußen ist es noch finster. Ich fühle mich wohl.

Die politischen Nachrichten der ersten Seite nehme ich mit der Gelassenheit eines älteren Herren zur Kenntnis, der weiß, dass er die Welt nicht mehr ändern kann. Als ich zum Lokalteil umblättere, sehe ich die Bilder von sechs Männlein und Weiblein. Darüber prangt die Überschrift: „Dieser Tag ist wie Ostern und Weihnachten zusammen“. Ich brauche drei Sekunden, um zu verstehen. Ab sofort nimmt der Tag einen anderen Verlauf.

Mein erster Gedanke: „Ich hasse diesen Tag.“ Dann greift mein Mechanismus, mit dem ich diesem 14. Februar seit Jahren mehr oder minder erfolgreich begegne: „Ignorieren. Ignorieren. Ignorieren. Nicht einmal den Namen aussprechen!“ Wenn ich von meiner Liebsten darauf angesprochen werde, gebe ich seit Jahr und Tag die gleiche Antwort: „Schatz, für mich ist jeder Tag ein Valentinstag!“ Manchmal ergänze ich dann noch: „Schatz, ich liebe dich 365 Tage im Jahr!“ Wenn sie mich darauf besonders hübsch anlächelt, lasse ich mich zusätzlich noch zu dem Satz hinreißen: „Schatz, ich träume sogar 365 Nächte von dir!“ Letzteres sage ich allerdings nicht so oft. Ich will ja nicht als Schleimer gelten.

Kommt bei Gesprächen mit anderen Leuten das Thema auf diesen Tag, beende ich die Diskussion schnell und zuverlässig mit folgendem Satz: „Amerikanischer Scheiß, der nur der Wirtschaft dient.“

Dieses Jahr läuft alles anders. Total anders. Aufregend, mühselig und nicht zu meinem Vorteil.

Nach den besagten drei Sekunden schlucke ich drei Mal heftig und bringe mich innerlich schon mal in Verteidigungsstellung, auch wenn meine Liebste noch tief schläft. Ein erneuter Blick auf den Typ in der Zeitung und das was er geschrieben hat, stellt meinen Seelenfrieden einigermaßen wieder her. Mein Überlegenheitsgefühl ist ausreichend. Es geht mir gut. Bis ich weiter lese.

Das Bild neben dem Mann zeigt eine sympathische Frau in den besten Jahren. Sie bringt umgehend alles in mir wieder durcheinander. Denn sie hat offensichtlich die Eigenschaft, um die ich mich in den letzten Jahren verstärkt bemühe: Gelassene Reaktion auf das Geschehen und ausgewogene Darstellung des Sachverhaltes.

„Der Valentinstag ist in der Tat ein ziemlich kommerzieller Tag, aber ich schätze es dennoch sehr, dass ich von meinem Mann jedes Jahr ein kleines Geschenk erhalte.“, wird die Frau zitiert. So etwas könnte meine Liebste auch sagen, denke ich. Aber zum Glück schläft sie ja noch.

Ich reiße mich zusammen, nehme einen Schluck Kaffee und lese weiter. Die sympathische Frau rutscht ins Vergessen. Als ich mit dem langen Artikel über das „Bienen sterben“ in Bayern fertig bin, ist mein seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt. Ich lege die Zeitung weg und boote meinen Computer.

Die erste E-Mail erscheint. Es ist eine Grußkarte! Eine gewisse Jacquie Lawson hat mir heute Nacht um 2:14 Uhr eine Grußkarte geschickt. Schell gehe ich alle meine Freundinnen durch. Eine Jacquie Lawson ist nicht darunter. Der muss die Kartenfirma gehören, denke ich.

Das Laden der Datei dauert eine Weile. Ein mit Blumen geschmücktes Herz baut sich auf und in der Mitte steht „Happy Valentine’s Day“. Nun erkenne ich: „Die Karte kommt von meiner Frau!“ Rührung macht sich breit. Meine Frau liebt mich. Nach fast siebenundvierzig Ehejahren liebt mich meine Frau noch immer!

Gerade wollen die ersten Flugzeuge im Bauch starten, da versucht diese andere Stimme noch einmal die Oberhand zu gewinnen. „Sie braucht diesen dämlichen Tag dazu, um dir ihre Liebe zu zeigen!“, flüstert die Stimme mir zu. Und weiter: „Eigentlich wehrst du dich zurecht gegen den Mainstream, die Geldmacherei und gegen die Degradierung deiner Liebesgefühle durch den Kommerz.“

Doch das ist ein letztes, vergebliches Aufbäumen. Denn diese sympathische Frau aus der Zeitung fällt mir wieder ein. „So würde meine Frau sprechen“, denke ich wieder. Dann schnellt mein Blutdruck in die Höhe, weil ich nichts, aber auch gar nichts für meine Gattin habe. Dieses Wochenende habe ich nicht mal eine Blume gekauft, was ich sonst immer tue. Die Wohnung erscheint mir leer und trostlos.

Leicht panisch rase ich los, um in den Supermarkt zu kommen. Aber um 7:45 Uhr ist das Geschäft noch geschossen. Also trinke ich noch einen Kaffee, der nicht annähernd so gut schmeckt wie der zu Hause. Pünktlich um 8:00 Uhr öffnet der Markt. Doch die Blumenfrau kommt erst um 9:00 Uhr! Mein Frust steigt.

Schnell entschlossen kaufe ich statt Blumen unsere Lieblingspralinen. Weil heute Freitag ist, erstehe ich an der Theke noch frischen Fisch. Schließlich bin ich ein mitdenkender Hausmann und weiß, dass meine Frau Freitags gern Fisch macht.

Als ich vor unserem Wohnblock in meiner Tasche nach meinem Schlüssel grabe, ergibt sich beim Blick nach oben ein total ungewöhnliches Bild. Meine Frau steht bei minus 1,5 Grad im dritten Stock auf der Terasse und winkt mir zu. Und das zu einer Zeit, zu der sie normalerweise noch schläft. Sehr ungewöhnlich.

Der Frust ist inzwischen verflogen, dafür hat die Aufregung beträchtlich zugenommen. Oben angekommen ringe ich um Luft. Bevor ich klingeln kann, öffnet sich die Tür. Das Lächeln dieser Frau ist einfach bezaubernd!

Noch einmal beginnt „die andere Stimme“ in mir ein kleines Störfeuer: „Vielleicht hält sie dich ja für den jungen Paketboten, dessen Freundlichkeit sie immer so lobt oder gar für den osteuropäischen Handwerker, der neulich aus dem Keller kam.“

Doch die Dinge nehmen ihren Lauf und entziehen sich weiter meiner Kontrolle. Atemlos stammle ich: „Danke für diese wunderschöne E-Karte.“ Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich erröte sogar leicht, während ich das sage. Während ich in meinen Rucksack greife, ergänze ich: „Ich habe ein Geschenk für dich.“

Ich ziehe den Fisch aus dem Rucksack, weil der halt zuoberst liegt, und will ihn zur Seite legen.

„Ach frischen Fisch!“, tönt meine Liebste.

„Ja weil heute Freitag ist.“

„Heute ist aber erst Donnerstag, mein lieber Schatz.“, antwortet sie mit einem Lächeln.

Leicht irritiert greife ich noch einmal in den Rucksack und hole die Pralinenschachtel heraus.

„Ach wie schön! Pralinen statt Blumen. Die Pralinen, die du auch so gerne ist!“ Ihr zauberhaftes Lächeln mutiert zu einem schelmischen Grinsen, als sie feststellt: „Na ja, weil du mir das letzte Mal fast alle Pralinen weggegessen hast, ist das ja auch nur fair von dir.“

Ich schlucke drei Mal und sage nichts. Eine Stunde später will ich meine Frau in den Arm nehmen. Zögerlich wehrt sie mich ab und sagt: „Ganz offensichtlich hast du deine E-Mail noch nicht gelesen. Du würdest mich möglicherweise nicht mehr in den Arm nehmen wollen.“

Ich rufe das E-Mail-Programm auf und lese eine E-Mail an euch Kinder mit Durchschlag an mich. Ihr kennt diese drei Zeilen:

„He leaves the house to buy a rose
and
comes back with fresh fish!“

Liebe Kinder, die drei Smilies unter ihrem Text wirken auf mich wie drei Heftpflaster, die ein kleines Kind trösten sollen, das weint, wo doch gar kein Blut zu sehen ist.

Mir dämmert, welche Dimension der Masochismus bei mir schon erreicht haben muss. Oder anders gesagt, ich verstehe nicht, warum ich eure Mutter trotzdem so liebe. Doch, jetzt da ich diesen Text geschrieben habe, geht es eurem Vater besser.

Einen Gruß an die besten Kinder der Welt vom besten Vater der Welt.

3 Gedanken zu „Ich hasse diesen Tag <br><small>(Ein offener Brief an meine Kinder)</small>“

  1. Hihi, ich habe da eher breit gegrinst statt nur geschmunzelt.
    Wobei ich insoweit auf deiner Seite bin, dass ich den Valentinstag grundsätzlich ignoriere. Und mein Schatz tut das sowieso.

    Liebe Grüße – vor allem auch an die beste Ehefrau der Welt –
    Uta

Schreibe einen Kommentar zu bruni8wortbehagen Antworten abbrechen